Skandale eignen sich prima, um die Befindlichkeit einer Gesellschaft zu beleuchten. So auch der aktuelle Dioxin-Skandal, der – wie jeder Skandal – ein gefundenes Fressen für all diejenigen Aufklärer in den Medien, Organisationen und Lobbygruppen ist, die es schon immer besser wissen. So hat die Sendung von Anne Will zum Jahresbeginn gezeigt, dass der moderne Verbraucher „entfremdet“ ist. Das wissen wir seit langem, es ist uns aber nicht bewusst. Vor allem nicht, welche Konsequenzen darauf folgen.
Fest steht: Verbraucher haben kaum noch keinen Bezug zum echten Wert von Lebensmitteln. Dass sie kaum noch einen Bezug zur Produktion haben, ist ohnehin klar. Gehörte in früheren Zeiten beispielsweise die Hofschlachtung noch zum Alltag der Menschen, so will heute niemand in der Realität erleben, wie Tiere geschlachtet und verarbeitet werden. Die Lebensmittelästhetik hat zu einem grundlegend veränderten Blick auf Nahrung und Ernährungsgewohnheiten geführt. Auch die Bedingungen von Tierhaltung und Tiertransporten blendet der Verbraucher üblicherweise aus. All dies ist bekannt und auch nachvollziehbar. Daraus aber ein Medienthema zu machen, ist scheinheilig.
Es wäre durchaus wichtig, dass die Verbraucher mehr über den Wert von Lebensmittel nachdenken, über die Ressourcen, die für Lebensmittel aufgewendet werden – auch Wasser, Energie, Arbeitszeit – über den ausgewogenen Umgang mit Essen und auch über die Preiswürdigkeit und die Folgen von dauerhaften Niedrigpreisen. Skandale führen uns zwar vor Augen, dass vieles, was wir als gegeben ansehen – zum Beispiel eine gute und einwandfreie Lebensmittelqualität zu Billigpreisen – eben nicht selbstverständlich ist, sondern das Resultat einer aufwändigen, komplexen Wertschöpfungskette. Skandale bringen aber keine neuen Erkenntnisse und vor allem keine Verhaltensänderung. Es sind immer dieselben „Aufklärer“, die dann das Wort ergreifen und uns immer wieder mit denselben Botschaften kurzzeitig betroffen machen. Einen gesellschaftlichen Nutzen kann ich darin nicht erkennen. Im Gegenteil: Sendungen, wie der genannte Talk bei Anne Will, verstärken die Oberflächlichkeit im gesellschaftlichen Diskurs. Weder, wie im konkreten Fall, bei Lebensmitteln, noch bei anderen gesellschaftlichen Themen (beispielsweise bei der Wahlmüdigkeit der Bürger) wird ein anhaltender Nachdenkprozess in der Bevölkerung in Gang gesetzt.
Gewiss, Transparenz ist wichtig. Und es ist auch gut, dass die Politik Transparenz und Aufklärung fördert. Was aber fehlt, sind Menschen, die nicht allein den Missstand beschreiben und sich darüber empören, sondern Besser-Macher. Wir brauchen echte Vorbilder. Wir brauchen prominente Leitbildpersonen, die andere für einen reflektierten, verantwortungsbewussten Lebensstil motivieren können. Menschen, die in Wort und Tat glaubwürdig sind. Mitbürger, die mit ihrem Verhalten zum Muster für andere werden.
Diese fehlen aber auf weitem Raum, und zwar nicht nur bei Anne Will, die sich auch früher nicht scheute, etwa in einer Sendung über die Gefahr von Fettleibigkeit Rainer Calmund als Wohlfühltestimonial zu präsentieren, und dadurch eher auf Unterhaltung als auf Vorbildhaftigkeit setzte. Was würde es bewirken, wenn zum Beispiel die Bundeskanzlerin, statt in Sommerinterviews stets die gleichen privaten Kochleidenschaften zu offenbaren, einmal sagen würde: „Lebensmittel sind wertvoll. Ich selbst versuche, mich bewusst zu ernähren und möchte alle Bürger ermuntern, ebenfalls bewusst einzukaufen und zu kochen und den Wert der Lebensmittel zu schätzen.“
Wir sollten – gerade bei Skandalen – nicht nur die Ursachen beschreiben, sondern auch den Sinn und die Aufrichtigkeit der gesellschaftlichen Diskussion darüber prüfen. Ob Lebensmittelskandal, Bildungsmisere oder Wahlmüdigkeit: Wer das Wort ergreift, sollte nicht bloß Aufklärer sein, sondern als Wegweiser und Vorbild Veränderungen bewirken. Die Orientierung am Glaubwürdigkeitsprinzip (www.glaubwuerdigkeitsprinzip) kann dabei helfen.