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Hinweis: Eine aktualisierte Version dieses Beitrags findet sich im Buch „Glaubwürdig kommunizieren“ von Wolfgang Griepentrog.

Jetzt ist sie da, die Chance zur Neuausrichtung der politischen Kultur. Wann, wenn nicht jetzt, können und müssen Nachhaltigkeit, Zukunftsorientierung und Glaubwürdigkeit Leitprinzipien im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden. Die jüngsten Wahlen haben nicht nur das parteipolitische Koordinatensystem ein Stück weit verändert, sie haben klar gemacht, dass die Politik in Deutschland ihren Auftrag neu und anders mit Leben füllen muss.

Die großen Volksparteien haben in den letzten Jahren ihre Bindungskraft immer mehr verloren. Das ist ihnen nicht allein anzulasten, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Trend. Auch andere große Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Vereine leiden darunter. Nicht politisches Desinteresse ist die Ursache, sondern im Gegenteil, ein neuer spezifischer Interessenmix der Bürger, der von den maßgeblichen politischen Parteien eine neue Art der Führung und Sinnstiftung erfordert. Der reflektierte, strategische Konsum, ein zunehmend wichtiges Muster der Verbraucherkultur, prägt auch den Wahlbürger.

Was ist zu tun? Wie kann die Politik Nachhaltigkeit, Zukunftsorientierung und Glaubwürdigkeit zur Mission machen? Die nachfolgenden fünf Anforderungen könnten Eckpfeiler einer neuen verantwortungsbewussten Politik sein.

1. Politik muss deuten

Die Krise der Politik ist eine Krise der Deutung. Was Unternehmen längst begriffen haben, gilt auch im gesellschaftlichen und politischen Kontext: Große Veränderungen, schwierige Entscheidungen, komplexe globale und nationale Zusammenhänge müssen gut erklärt, begründet und bewertet werden. Nur wenn Menschen verstehen, warum welche Entscheidungen getroffen werden, warum das eine oder andere „Opfer“ von ihnen verlangt wird, warum das eine politische Argument besser ist als das andere, nur dann folgen sie der Politik und akzeptieren sie. Nur dann gilt sie als glaubwürdig. Dabei ist grundsätzlich alles erklärbar und vermittelbar. Eine Politik, die nach verlorener Wahl sagt, sie hätte ihre Anliegen und Interessen nicht vermitteln können, leistet den Offenbarungseid. Denn genau das ist ihr Auftrag. Und genau darin liegt ihre Entfremdung – zum Teil.

Natürlich braucht ein 80 Millionen-Volk wie Deutschland andere, effiziente Organisationsformen als ein basisdemokratisches kleines Land wie etwa die Schweiz. Natürlich liegt eine gesunde Distanz zwischen „großer Politik“ und Bürgern in der komplexen Natur unseres Landes. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist es wichtig, dass die politische Kommunikation den Erwartungen der Bürger gerecht wird und stärker als in den letzten Jahren den offenen, richtungsweisenden Dialog sucht (in allen Kanälen). Politische Kommunikation hat, vereinfacht gesagt, zwei Dimensionen: die Sachebene und die Sinnebene. Es ist festzustellen, dass sich zumindest die Bundes- und teilweise auch die Landespolitik stark auf die Sachebene zurückzieht, bei der Vermittlung von Sinn und Orientierung aber im Unverbindlichen bleibt.

Vielleicht sollte sie sich an den Erkenntnissen der Markenindustrie orientieren: Erfolgreiche Marken kommunizieren nicht nur Sachargumente und Merkmale des Leistungsangebots, sondern vor allem ihre Markenwerte, das heißt ihre Einstellungen, Haltungen und Grundprinzipien, nach denen das Kerngeschäft ausgeübt wird. Das ist wichtig für ihre Positionierung am Markt. Das muss auch politische Kommunikation leisten. Sie muss die „Markenwerte“ der politischen Parteien deutlicher vermitteln. Nur das macht Politik nachvollziehbar und berechenbar (und damit auch nachhaltig). Gewiss, Politik bedeutet Moderation und Ausgleich von Interessen und manchmal auch ein Zurückstecken eigener Anliegen. Aber genau deswegen sind klare eigene Werte und gut kommunizierte Standpunkte wichtig. Dann erfüllt Politik ihren Auftrag als deutende, Orientierung stiftende Kraft.

2. Politik muss ihren Gestaltungsspielraum ausschöpfen.

Unter den Bedingungen der politisch, wirtschaftlich und sozial eng vernetzten Welt sind die Gestaltungsspielräume der Regierungen klein geworden. Zwischen den Vorgaben der selbstbewussten EU-Organe und den ebenso selbstbewusst verteidigten Länderkompetenzen bleibt manchmal nur ein enger Korridor, in dem politische Entscheidungen überhaupt möglich sind. Dieser Spielraum muss so ausgeschöpft werden, dass Nachhaltigkeit, Zukunftssicherung und die Verantwortung für das Wohlergehen künftiger Generationen erkennbare Leitprinzipien sind – unabhängig von der parteipolitischen Überzeugung.

Wirtschaftliches Wachstum und substanzielle Risiken für die Bevölkerung müssen verantwortungsbewusst in Ausgleich gebracht werden. So können beispielsweise in der gegenwärtigen Atomdebatte niedrige Energiepreise oder die Sicherheit von Arbeitsplätzen nicht Vorrang vor Sicherheitsüberlegungen haben. In kritischen Entscheidungssituationen kommt es wiederum maßgeblich auf die Fähigkeit der Politik an, Beschlüsse gut und glaubwürdig zu vermitteln. Das Ausschöpfen des Gestaltungsspielraums setzt oftmals Mut und große Souveränität voraus, weil in der aufgeheizten Mediengesellschaft rasch polarisiert wird und die gesellschaftliche Meinungsbildung oft mit wenig Augenmaß beeinflusst wird. Mut bedeutet, den eigenen Gestaltungsspielraum notfalls auch gegen Widerstände auszuschöpfen, wenn es das Verantwortungsbewusstsein erfordert. Im Ausgleich von ökonomischen, ökologischen und sozialen Interessen sollte sich die Politik übrigens wiederum an der Wirtschaft orientieren: für Unternehmen ist dieser Ausgleich auf Grundlage ihrer „Corporate Social Responsibility“ (CSR) längst selbstverständlich. Unternehmen haben begriffen, dass CSR den Handlungsspielraum nicht einengt, sondern erweitert. Politik muss das ebenfalls beherzigen.

3. Politik braucht ein neues Führungsverständnis.

Ich bin überzeugt, dass sich viele Probleme in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf Probleme im Stil und im Umgang zurückführen lassen. Das gilt auch für den Führungsstil in der Politik auf Landes- und Bundesebene. Auch hier sei der Vergleich von Top-Politikern mit Top-Managern erlaubt. Top-Manager zeichnen sich dadurch aus, dass sie komplexe Zusammenhänge begreifen, steuern und nach unternehmenspolitischen Kriterien bewerten und entscheiden können. Für das notwendige fachliche bzw. sachliche Fundament ihrer Entscheidungen sorgen sie durch eine maßgeschneiderte Infrastruktur aus Experten und fachlich versierten Führungskräften. So sollte es auch in der Politik sein. Ihr Auftrag liegt nicht in der Fachkompetenz, sondern in der Entscheidungs- und Führungskompetenz.

Daher braucht sie eine hoch professionelle Infrastruktur, die ihre Entscheidungen optimal vorbereitet. Wenn diese Infrastruktur nicht nach fachlichen, sondern nach parteipolitischen Interessen organisiert wird, wird Politik ihrer Führungsverantwortung nicht immer gerecht. Unterhalb der Top-Führungsebene der Politik sollten ungeachtet von Parteiinteressen die besten Fachexperten des Landes arbeiten.

Dies würde einen Professionalisierungsschub der Politik bedeuten und das fachlichen Gefälle zwischen Wirtschaft und Politik (und damit manchen Interessenkonflikt) vermeiden. Und wenn fachliche und politische Expertise zusammentreffen: wunderbar!

4. Nachhaltige Politik braucht gute Lobbyarbeit und muss diese engagiert einbinden.

Lobbyarbeit, oder vornehm „Politikberatung“ genannt, ist ein wichtiger und unverzichtbarer Faktor im gesellschaftlichen Zusammenspiel. Skepsis oder schlechtes Image sind unberechtigt, solange sich Unternehmen und Organisationen (nicht nur die Wirtschaft, auch die NGOs betreiben Lobbyarbeit) klar, offen und transparent zu ihren Positionen bekennen. Dies macht das gesellschaftliche Zusammenspiel berechenbar. Und auf die fachliche Expertise sowie auf die Deutungskompetenz der Lobbyisten kann die Politik nicht verzichten.

Nachhaltige und verantwortungsvolle Politik ist nur dann möglich, wenn alle Stakeholder (Anspruchsgruppen) der Gesellschaft Gehör finden und ihre Anliegen in die politische Meinungsbildung einfließen lassen können. Die Politik sollte deswegen keine Barriere aufbauen, sondern Lobbyisten aus allen Bereichen offen und engagiert in ihre Arbeit einbinden. Für mehr Nachhaltigkeit und Verantwortung brauchen wir ein neues, faires, offenes Zusammenspiel von Meinungen und Interessen in der Gesellschaft, das freilich klaren, verbindlich festgelegten Regeln folgen muss.

5. Neu-Positionierung der Politik kann Profil schärfen.

Nachhaltigkeit, Zukunftsorientierung und Glaubwürdigkeit müssen nicht nur Leitprinzipien unser politischen Kultur werden, sie müssen sich auch in der Positionierung und Profilierung der Parteien widerspiegeln. Dass eine schärfere Profilierung notwendig ist, haben die Parteien erkannt. Allerdings sollten Union, SPD und FDP, überprüfen, was gemeinsames Fundament und was ihr „USP“, also ihr spezifisches Leistungsversprechen, ist. Vielleicht müsste es einen großen, ehrlichen Konsens geben, dass das gemeinsame Fundament heute gleichzeitig grün-ökologisch, liberal, wertkonservativ und sozial ist und sein muss.

Eine parteiliche Differenzierung ist bei diesen Merkmalen ohnehin kaum noch möglich und nachvollziehbar. Alle vier Aspekte sind wertvoll und Treiber einer nachhaltigen Gesellschaft. Unabhängig von diesem gemeinsamen Fundament müssen die Parteien über neue Aspekte und Möglichkeiten einer effizienten und authentischen Positionierung nachdenken. Diese könnte sich zum Beispiel an spezifischen Formen der Vermittlung festmachen oder an besonderen Themenfeldern (z.B. Bildung).

Für die Neupositionierung der Parteien in Richtung Nachhaltigkeit und Zukunftsorientierung wäre es zweifellos hilfreich, wenn sie mit einer Öffnung für jüngere politisch engagierte Kräfte einherginge. Die Generation der 40- bis 50-Jährigen, über deren Lebensstil für die nächsten Jahrzehnte heute entschieden wird, ist in der Top-Politik unterrepräsentiert. Diese Generation sollte in der politischen Führung des Landes jetzt eine Rolle spielen.

Fazit

Alles Illusion? Politik muss und wird sich ändern. Weniger durch die jüngsten Wahlergebnisse, sondern weil eine (noch stillschweigende) Mehrheit aufgeklärter und verantwortungsbewusster Bürger die ernsthafte und berechenbare Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und Verantwortung gegenüber künftigen Generationen verlangt. Umsetzbar ist dies, wenn Politik und politische Kommunikation auf verbindlichen Werten basieren. Das Glaubwürdigkeitsprinzip, das sich am Vorbild des Ehrbaren Kaufmanns orientiert, kann hierbei Richtschnur für die Politik 2.0 sein.