Hinweis: Eine neuere Version dieses Beitrags findet sich auch im Buch „Glaubwürdig kommunizieren“ von Wolfgang Griepentrog.
Gudrun Happich beleuchtet in ihrem sehr empfehlenswerten Leistungsträger-Blog Erfolgsfaktoren im Management. Dabei wird immer wieder deutlich, an welchen Werten und Grundsätzen sich exzellente Führung orientieren muss. Nun hat sie in ihrer aktuellen Blog-Parade zu einem gemeinsamen Blick auf die Führungskultur im Jahr 2020 aufgerufen. Hierzu möchte ich das Augenmerk auf einen scheinbar allgemein akzeptierten Wert lenken, der die Führungskultur in Unternehmen und Organisationen heute häufig prägt, der aber kritisch hinterfragt werden muss: Perfektionismus – oder: die mangelnde Fähigkeit zur Differenzierung zwischen „perfekt“ und „mehr als perfekt“.
Dass diese Differenzierung vielen Menschen im Alltag, sowohl im eigenen Anspruch als auch im Umgang mit anderen, schwer fällt, ist zweifellos Ursache zahlreicher zwischenmenschlicher Konflikte sowie eines zunehmend schwächeren gesellschaftlichen Zusammenhalts und damit ein Problem. Perfektionismus als Führungsprinzip ist darüber hinaus aber Zeichen mangelnden Verantwortungsbewusstseins.
Die Diskussion über Werte, Grundsätze, Verantwortung und Glaubwürdigkeit im Management ist schwierig. Ich selbst beteilige mich aktiv daran und beiße dabei (wie andere auch) mit eigentlich Selbstverständlichem und allgemein Akzeptiertem auf Granit. Anspruch und Realität, propagierte Haltungen und tatsächliches Verhalten, klaffen weit auseinander. Das macht die Auseinandersetzung mit den Grundsätzen des Ehrbaren Kaufmanns und der Glaubwürdigkeit, die im Glaubwürdigkeitsprinzip (Buch und Manifest) ihren Niederschlag finden, so spannend – das macht es aber auch so schwer, das Phänomen des Perfektionismus zu greifen.
Führungskräfte wollen in der Regel nicht als perfektionistisch gelten. Aber liegt nicht insgeheim der weit verbreitete Anspruch genau darin, stets mehr zu erreichen als man kann und von anderen mehr zu fordern als möglich ist? Wird heute von Mitarbeitern und externen Dienstleistern (zum Beispiel Beratern oder Agenturen) nicht oft mehr erwartet als die 100 prozentige, saubere und kluge Umsetzung des Leistungsversprechens? Der maximale Vorteil für das Unternehmen, für den eigenen Bereich oder für die eigene Karriere ist das Ziel – es gilt, größtmöglichen Nutzen aus den vorhandenen Ressourcen zu schöpfen. Das ist eine Sonderform des „Schnäppchendenkens“ auf Verbraucherebene (bester Nutzen zum billigsten Preis), hat das gleiche Motiv und wird bisweilen mit der gleichen Maßlosigkeit verfolgt. Das Bild eines guten Managers und einer erfolgreichen Führungskraft ist doch sehr stark von Perfektionismus geprägt. Das gilt für die Erwartungen, die an Manager und Führungskräfte gestellt werden ebenso wie für den eigenen Anspruch, den diese an sich stellen. Sicher führen verschärfte Rahmenbedingungen zu einem hohen Druck auf Manager und Führungskräfte: etwa der wachsende globale und lokale Wettbewerb, der Druck zu verkaufen, Ressourcenknappheit, zunehmende Komplexität und extreme Gewinnorientierung. Sich unter diesen Bedingungen durchzusetzen und besser zu sein als andere, führt leicht zu einem stillschweigend akzeptierten perfektionistischen Anspruch. Dieser ist aber ungesund und belastet die Kultur in den Unternehmen.
Das Problem: Perfektionismus verhindert den Respekt vor den Leistungen und dem Engagement von Mitarbeitern oder Geschäftspartnern. Statt den Wert einer Leistung in ihrer Gesamtheit zu erkennen (diese umfasst eben mehr als das Resultat eines ausgeführten Auftrags), führt perfektionistischer Anspruch zu Erwartungen, die unternehmerisch oder volkswirtschaftlich unsinnig und – da kaum erfüllbar – auch ethisch fragwürdig sind. Das Bild des Handwerkers, der eine Schraube anzieht, verdeutlicht das. Nicht auf die extreme Festigkeit kommt es an, sondern auf das richtige Drehmoment (oft ist dies vom Hersteller sogar vorgegeben) und die richtige Einschätzung, wann die Schraube die optimale Festigkeit hat. Übertretung führt zur Zerstörung und macht die Bemühungen im Vorfeld zunichte. In dieser Situation befinden sich Manager und Führungskräfte täglich. Statt gute Leistungen zu würdigen, wird oft mehr verlangt, ohne dieses „mehr“ immer klar zu definieren. Sicher auch, weil Manager bisweilen in ihrer Einschätzung unsicher sind, wann eine Aufgabe gut umgesetzt wurde. Das ist im Top-Management großer Konzerne ebenso zu beobachten, wie im Kleinen und der Druck des größtmöglichen Shareholder Value verstärkt dies. Wo aber Respekt und Aufmerksamkeit für den Wertbeitrag und das Leistungspotenzial von Mitarbeitern aufgrund von Perfektionismus fehlen, mangelt es oft auch an weiteren Faktoren erfolgreicher Unternehmensführung wie Transparenz und strategischer Kompetenz. Letztere setzt nämlich die gute Einschätzung von Leistungspotenzialen und angemessener Zielsetzung voraus.
Vertrauensverlust, sinkendes Committment der Mitarbeiter und langfristig geringerer unternehmerischer Erfolg sind häufig Konsequenzen einer perfektionistischen Führungskultur. Perfektionistische Führungskräfte werden ihrer Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und externen Geschäftspartnern nicht gerecht, da sie zur positiven Leistungsentfaltung nicht optimal beitragen.
Bedeutet dies nun, dass Mitarbeiter und Geschäftspartner nicht gefordert werden sollten? Keineswegs! Das wäre eine Fehlinterpretation (die aber in der Realität zugegebenermaßen auch häufig begegnet). Ich selbst bin viele Jahre als Führungskraft in einem DAX 30 Konzern mit dem Prinzip der „sanften Überforderung“ gut gefahren (und habe dies auch selbst erfahren). Wer nämlich Ziele klar definiert, die strategische Marschrichtung in Projekten deutlich aufzeigt, dabei Orientierung schafft und den Mitarbeitern ihr eigenes Leistungspotenzial aufzeigt, wird auch ohne perfektionistischen Anspruch zu guten Ergebnissen gelangen. Es kommt darauf an, stets – auch bei fehlender Zielerreichung – Engagement, Leistungen und den Wertbeitrag von Mitarbeitern aufmerksam zu prüfen und die Wertschätzung hierfür deutlich zum Ausdruck zu bringen. Dies ist nicht nur eine Frage des Respekts, sondern auch der Professionalität. Im Blog des Glaubwürdigkeitsprinzips habe ich das kürzlich näher erläutert.
Perfektionismus hängt häufig auch mit Schwächen im Erwartungsmanagement zusammen. Dies ist ein verbreitetes Managementproblem. Dass die aufmerksame Beobachtung und Analyse der jeweiligen Erwartungen von Zielgruppen (sei es in der Kommunikation, im Marketing, im Vertrieb oder unternehmensintern) konsequent die Grundlage von Management und Führung ist, kann man nicht behaupten. Deswegen sind Zielsetzungen – entweder selbst gesteckte Ziele oder die Anforderungen gegenüber anderen – oft unklar, unpassend oder pauschal übertrieben.
Und wie wird es 2020 aussehen? Wird der Perfektionismus der Manager stärker? Der Wertewandel und die Rückbesinnung auf klassische ethische Prinzipien, wie sie beispielsweise im Vorbild des Ehrbaren Kaufmanns zum Ausdruck kommen, vollzieht sich äußerst langsam. Mit Ernüchterung bleibt festzustellen, das die sogenannten gesellschaftlichen Eliten, also Politik, Top-Manager und Multiplikatoren, aus der jüngsten globalen Finanz- und Vertrauenskrise wenig gelernt haben. Mit geringen Korrekturen machen wir da weiter, wo wir vor der Krise aufgehört haben. Aber es gibt eine wachsende Personengruppe, die sowohl im privaten Lebensstil als auch in Management und Unternehmensführung auf Nachhaltigkeit, Reflexion und gesellschaftliche Verantwortung setzt. Mit der Verbrauchergruppe der sogenannten LOHAS („Lifestyle of Health and sustainability“) ist ihre Haltung nur unzureichend skizziert. Dieser gesellschaftliche Trend könnte zu weniger Perfektionismus im allgemeinen Führungsstil der nächsten Jahre führen. Allerdings läuft die Trennlinie zwischen perfektionistisch und nicht perfektionistischem Anspruch quer durch die Bevölkerung. Gerade unter den LOHAS gibt es nämlich viele Perfektionisten. Hierzu zähle ich beispielweise auch diejenigen Vertreter von NGOs und Verbraucherschutzgruppen, die mit perfektionistischem Anspruch den Blick für Werte, Wertschöpfung und Engagement in der Wirtschaft versperren.
Perfektionismus ist ebenso wie Glaubwürdigkeit eine Frage der Haltung. Da der Erfolgsdruck auf Führungskräfte durch die genannten Rahmenbedingungen weiter steigen wird, wäre nicht zuletzt im Interesse von Effizienz und unternehmerischem Erfolg, eine stärkere Orientierung an den Grundsätzen von Glaubwürdigkeit und Verantwortung wünschenswert, die für Perfektionismus keinen Raum lässt.