Wenn wir die Ursache von Unternehmenskrisen wie aktuell bei Volkswagen fair einschätzen wollen, müssen wir auch fragen: Wie frei sind eigentlich Manager in ihren Entscheidungen und ihrem Handeln … und wie frei fühlen sie sich? Diese Betrachtung zeigt ein Dilemma und führt uns zum Prinzip der Aufklärung, das heute im Management wichtiger ist denn je. Darum geht es in diesem Beitrag.
„Inseln der Unmündigkeit“
Karrieren von Top-Managern enden oft abrupt. Der ehemalige VW-Chef Winterkorn und Kommunikationsmanager Grühsem sind das jüngste Beispiel. Gibt es eine gemeinsame Erklärung für diese Managerschicksale, etwa eine unbeachtete Gefahr? Das Fehlen einer Compliance-Kultur und die Diskrepanz zwischen Worten und Taten erklärt auf den ersten Blick die Krise bei VW. Bei genauerer Betrachtung erkennen wir aber ein Phänomen, das mit Einflüssen zusammenhängt, denen Top-Manager (und übrigens auch Top-Politiker) in der modernen Welt ausgesetzt sind: Es geht um eine neue Form „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ von Top-Managern, die im Kontrast zu ihrer Macht steht. Den Schlüssel liefert Immanuel Kants Prinzip der Aufklärung. Es lässt sich auf die Bedingungen des modernen Top-Managements gut übertragen und ist hochaktuell.
Aufklärung bezeichnet die Fähigkeit, auf Basis eigenen kritisch-rationalen Denkens zu entscheiden, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Der Philosoph Immanuel Kant hat mit seiner Aufforderung, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, eine epochale Entwicklung vorangetrieben, die letztlich unseren heutigen Wohlstand begründet. Rund 230 Jahre nach Kant, in der globalen, digital vernetzten, informationsüberfluteten Kommunikationsgesellschaft gerät der Geist der Aufklärung aber in Gefahr.
Dabei habe ich nicht die privaten User von sozialen Netzwerken im Blick, die schon beim Einloggen freiwillig ihre Vernunft ausschalten, auch nicht die leicht beeinflussbaren Werbe-Rezipienten, die sich gerne von Konsumversprechen leiten lassen; die Sorge gilt vielmehr den Top-Managern und ihren PR-Profis. Ihre Arbeit kann – wie in einem früheren Beitrag beschrieben – eher kommunikationsfördernde oder eher kommunikationshemmende Wirkung haben, vor allem ist sie aber vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. Wir erleben vor allem in den Führungsetagen mancher börsennotierter Konzerne, dass neue „Inseln der Unmündigkeit“ entstehen: Dabei führen inmitten aller Informationsvielfalt, aller Kommunikationsmöglichkeiten und aller Professionalität neue Zwänge zu einer selektiven und befangenen Wahrnehmung und beeinflussen das Management- und Kommunikationsverhalten. Bei diesen Zwängen handelt es sich vor allem um Kapitalmarkt- oder Investorenerwartungen, aber auch um individuelle Ängste vor Reputations- und Machtverlust, wenn z.B. bestimmte Ziele nicht erfüllt werden. Auch extremes Gewinn- und Wachstumsstreben oder der Primat der eigenen Karriere können einen Zwang bedeuten und zu erheblicher Befangenheit im Denken und Handeln von Entscheidern führen.
Im Laufe meiner beruflichen Vita habe ich beobachtet, wie sich CEOs, aber auch Kollegen im Kommunikationsmanagement unter dem Druck des Erfolgs und der Angst, einen falschen Schritt zu machen, menschlich verändern. Je bedeutender die Position, je größer die bereits erreichten Erfolge, je höher die Aufmerksamkeit und das Gewicht in der Öffentlichkeit sind, desto größer das gefühlte Risiko: Eine Fehlentscheidung, ein falsches oder unterlassenes Signal, ein falscher Schritt macht aus einem hoch geschätzten Manager im Handumdrehen den Buhmann. Wie begründet diese Furcht ist, erleben wir andauernd.
Natürlich wird nicht jeder Entscheider durch schwierige Umstände zwangsläufig befangen oder im Kantschen Sinn „unmündig“. Manager gehen mit Zwängen und Erwartungen unterschiedlich um, je nach persönlicher Veranlagung. Wer sich von verbindlichen Grundsätzen und Unternehmenswerten leiten lässt, ist weniger anfällig dafür, einem Druck nachzugeben und sein Handeln an fremden Kriterien auszurichten. Andere aber schotten sich aus Unsicherheit ab, lassen nur wenige Impulsgeber an sich heran, wollen Signale nicht sehen, blenden Unangenehmes und Kritisches am liebsten aus.
Auf dieser Basis passieren dann leicht Fehler: Entweder kommt es zu echten Kommunikationspannen durch falsche Botschaften (wie oft reicht ein Satz, um eine Prozesslawine oder einen Sturm der öffentlichen Enrüstung auszulösen), oder es werden notwendige Maßnahmen und Weichenstellungen nicht realisiert (wie die kulturwirksamen Compliance-Kommunikation bei VW). Wenn sich aber Manager von anderen Kriterien als von ihrer eigenen Vernunft und ihrem kritischen Einschätzungsvermögen leiten lassen und darüber entscheidende Entwicklungen ignorieren, berauben sie sich ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Diese Form von „Unmündigkeit“ tangiert nicht die Macht des Mandats, sondern die Art der Ausübung. Sie ist eine Gefahr für den Management- und den Unternehmenserfolg.
Natürlich ist diese „Unmündigkeit“ nicht generell, sondern nur in einzelnen Handlungs- oder Themenfeldern festzustellen. Deswegen rede ich auch von „Inseln der Unmündigkeit“. Aber wenn es, wie bei Volkswagen, ein so wichtiges Handlungsfeld wie die Unternehmenskultur betrifft – konkret die Etablierung einer glaubwürdigen Compliance-Kultur, kann das eben weitreichende Konsequenzen haben.
Einsamkeit an der Spitze fördert „Unmündigkeit“
Wer an der Spitze einer Organisation oder eines Bereiches steht, ist naturgemäß einsam. Das gilt besonders für Top-Manager in großen Unternehmen. Sie arbeiten oft in einem Umfeld, das nicht die Realität des Unternehmens widerspiegelt:
- Mitarbeiter halten sich mit Kritik zurück, um nicht unangenehm aufzufallen.
- Abhängige Führungskräfte hübschen ihre eigene Leistungsfähigkeit und die ihres Bereichs auf.
- Externe Berater und Agenturen vermitteln eine unrealistische Sicht der Dinge und haben überhaupt kein Interesse an einem kritisch reflektierenden, souveränen Auftraggeber – im Gegenteil: Sie tun oft alles, um die Entscheider auf der Unternehmensseite „unmündig“ zu machen.
- Überflüssige Management- und PR-Preise tun ihr Übriges dazu und zementieren die Scheinrealität.
In dieser Situation ist jede Form von Isolation, jedes Ritual der Abschottung beispielsweise durch einen streng hierarchiebetonten Umgang gefährlich. Wer sich aber Erkenntnissen und Impulsen verschließt und nicht den vertrauensvollen Austausch auf allen Ebenen sucht, mindert automatisch die Qualität seiner Entscheidungen.
Wie gelingt „vernünftige“, „aufgeklärte“ Kommunikation?
Kants Beschreibung zur Frage „Was ist Aufklärung“ ist auch heute noch selbsterklärend: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Wendung „ohne Leitung eines anderen“ bedeutet in unserem Kontext „ohne Beeinflussung durch sachfremde Aspekte oder unternehmensferne Interessen“.
Übertragen auf den Management- und Kommunikationsauftrag von CEOs und PR-Managern könnte man das Prinzip der Aufklärung nach Kant heute so beschreiben: „Aufgeklärtes, verantwortungsbewusstes Management lässt sich nicht durch sachfremde Zwänge beeinflussen, sondern basiert auf eigener kritischer Einschätzung der Situation, der verschiedenen Erwartungen sowie einer kritischen Analyse aller Chancen und Risiken. Top-Manager und ihre PR-Chefs handeln souverän und verantwortungsbewusst im Interesse ihres Unternehmensauftrags. Im Fall von Interessenkonflikten zeigen sie Mut.“
Aufklärung und Vernunft im Management und zeichnen sich im Geiste von Kant also durch folgende Eigenschaften aus:
- Hohe Selbstreflexion des eigenen, verantwortungsbewussten Handelns und der relevanten Chancen und Risiken,
- Zwänge und Konflikte werden positiv als Chance erkannt und nicht ausgeblendet,
- Mut, Authentizität, Initiative sind Merkmale vernunftorientierten, souveränen Managements.
Je schwieriger die Rahmenbedingungen für die Kommunikation sind, je vielfältiger die unternehmenspolitischen Anforderungen und je stärker der Erfolgsdruck, desto wichtiger wird diese einfache Handlungsmaxime der Aufklärung für die heutige Unternehmenspraxis.
Vielfältige Abhängigkeiten prägen den Management- und Kommunikationsalltag
Wenn bei Managern Macht und „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (etwa durch extremes Sicherheitsdenken oder durch einseitige Prioritätensetzung) zusammenspielen, kommt es zum Dilemma. Wer wichtige Management- und Kommunikationsentscheidungen zu treffen hat, darf sie nicht gleichzeitig blockieren. Winterkorn und Grühsem haben enorm viel für VW geleistet, aber einen entscheidenden Auftrag ausgeblendet und den Kulturwandel blockiert.
Dieser Zwiespalt ist in Unternehmen Ausdruck vielfältiger Abhängigkeiten, die in der global vernetzten Welt ein Höchtsmaß an Komplexität erreicht haben. Manager müssen diese Abhängigkeiten beherrschen und ganz unterschiedlichen Interessen gerecht werden. Dass das nicht immer leicht ist, vor allem wenn die Aufsichtsgremien einseitigen Druck ausüben, erleben wir immer wieder. Top-Manager müssen lernen, damit umzugehen, damit es künftig weniger dramatische Krisenentwicklungen wie bei Volkswagen und der Deutschen Bank gibt. Dabei können folgende Anregungen helfen, Abhängigkeiten und Befangenheit zu reduzieren:
So bewahren CEOs und Kommunikationsmanager ihre Souveränität
- Nehmen Sie sich Zeit und schaffen Sie im Tagesablauf Freiraum zur kritischen Reflexion des eigenen Handelns!
- Behalten Sie alle Chancen und Risiken im Blick, im Kommunikationsmanagement zum Beispiel durch eine regelmäßig aktualisierte „Due Diligence der Kommunikation“!
- Vermeiden Sie jede Art von Isolation, sondern suchen Sie den offenen, vertrauensvollen und konsequenten Dialog auf allen Ebenen!
- Hören Sie auf Ihre Mitarbeiter, prüfen Sie aber auch Rat und Anregungen von außen kritisch!
- Fördern Sie die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und zu verantwortungsbewusstem Handeln im gesamten Unternehmen – bei Mitarbeitern und Führungskräften!
- Behalten Sie nicht nur die Erwartungen der Stakeholder, sondern auch die dahinter stehenden Interessen im Blick und machen Sie die Zusammenhänge wenn nötig transparent (Konflikte lassen sich oft schon durch die faire Darstellung der Interessen entschärfen)!
- Seien Sie Impulsgeber für Modernisierung, Fortschritt und Weiterentwicklung im Unternehmen! Innovationen zuzulassen und anzuregen, ist der beste Schutz vor Befangenheit und „Unmündigkeit“.
All das ist nicht selbstverständlich. Was Kant beschreibt, ist nämlich eine Frage der Haltung. Diese Haltung aber, die Mündigkeit und Glaubwürdigkeit in Management und in der Unternehmenskommunikation ausmacht, ist in einigen Fällen unter die Räder gekommen.
Ein neuer Blick auf Volkswagen …
Es ist weitgehend unbekannt, dass an der Spitze großer Konzerne eine andere Realität herrscht als nach außen hin vermittelt und öffentlich wahrgenommen wird. Die Medien zeigen nur einen kleinen Ausschnitt, ein unvollständiges Bild vom Unternehmen und vom Management – und noch dazu immer das gleiche. Wie schwer es aber im Praxisalltag ist, stets die Balance zwischen eigenen Werten, langfristigen Unternehmenszielen und kurzfristigen Erwartungen oder Partikularinteressen zu wahren, erfährt man selten. Auch nicht, mit welchen Herausforderungen im Detail sich das Unternehmen wirklich befasst oder sich eben nicht befasst. So gesehen, mag man über das Schicksal von Winterkorn/Grühsem bei Volkswagen („Kommunikation im Kokon“?), über die Kommunikation in der Ackermann-Ära der Deutschen Bank oder über die des Duos Jain/Fitschen, aber auch über manch Sonderbares bei Siemens und Lufthansa neu und vielleicht verständnisvoller nachdenken.
Was bei diesen Betrachtungen hilft, sind positive Beispiele: Manager, die den Kampf gegen starke Einengung oder drohende „Unmündigkeit“ offenbar für sich entschieden haben. Ich meine CEOs wie Olaf Koch, der einen ganz neuen gleichermaßen authentischen wie souveränen Managementstil verkörpert.
Fazit
Was lernen wir aus Unternehmenskrisen wie bei Volkswagen? Wie frei sind Top-Manager und PR-Profis in ihren Entscheidungen wirklich? Und wie frei fühlen sie sich? Wenn wir versuchen, manch unglaubliche und von außen schwer nachvollziehbare Vorgänge in Unternehmen mit dramatischen Folgen zu verstehen, können diese beiden Fragen weiterhelfen.
Sie führen zur Erkenntnis, dass das Prinzip der Aufklärung, wie es Immanuel Kant formuliert hat, bei Top-Managern heute gefährdet ist – und damit der Gestaltungsspielraum und die Kommunikationsverantwortung im Management.
Kants Maxime heißt salopp gesagt: „Lass Augenmaß und Verstand walten, handle verantwortungsbewusst und souverän auf Basis kritischer Reflexion!“
Darin liegt ein Appell für eine Haltung, die sich nicht beirren lässt von unternehmensfremden Interessen. Die Haltung macht Glaubwürdigkeit und Verantwortung aus.
Hut ab vor allen, die diese Herausforderung meistern!